The war is over

8 – Grenzen

Frau streckt ausgestreckte Hand in die Kamera, als Zeichen dass sie Stopp sagt

Diese Erfahrung mit meiner Familie war wie ein Crash-Kurs im Erwachsenwerden. Das erste Mal in meinem Leben, das ich etwas für mich entschieden hatte, obwohl „man das eigentlich nicht macht“. Obwohl es bedeutete, etwas loszulassen das mir die Welt bedeutete. Trotzdem musste ich gehen, um meine Würde wahren zu können. Verantwortung für die eigene Würde „Es gibt immer einen der es macht und der andere der es mit sich machen lässt.“Wer hat mehr „Schuld“? Niemand ist dafür verantwortlich meine Würde zu wahren, außer ich selbst. Ich bin dafür verantwortlich sie zu ehren und zu schützen – nicht andere. Wenn mein Gegenüber sie nicht aus einem Selbstverständnis wahrt, ist es meine Aufgabe, wie eine Löwen-Mutti für mich selbst aufzustehen und eine glasklare Grenze zu setzen. Ich bin diejenige die mich jeden Tag ertragen darf und bis zum letzten Atemzug begleiten werde. Es ist die Beziehung zu mir selbst, die die wichtigste in meinem Leben ist, denn darauf baut alles weitere auf. Wie ich mit anderen umgehe, wie stabil ich in Beziehungen mit anderen bin, wie groß ich mein Herz öffnen kann –all das ist eine Spiegelung der eigenen Beziehung zu mir selbst. Verachte ich mich –> verachte ich andere –> verachten andere mich –> verachte ich mich.. usw. Daraus kann ein unendlicher Kreislauf werden, wenn ich nicht hier und jetzt diese Grenze ziehe und einen Schritt außerhalb des Kreises setze. Natürlich für mich, jedoch auch für den anderen. Der schmerzvollste Aspekt Na klar, ist in uns der natürliche Wunsch, dass unser Gegenüber von sich aus, diese Grenze wahrt, unsere Würde wahrt und uns respektiert. Dass wir gar nicht dafür aufstehen müssen. Bei mir zumindest war das der schmerzvollste Aspekt. Das fühlt sich nicht gut an.Vor allem nicht, wenn es die eigene Familie betrifft. Wie oft höre ich in meinem Umfeld: „Das ist doch die Familie, das ist halt so.“ Gerade weil es die Familie ist, sollte es genau umgekehrt sein. Familie sollte der bedingungslose Ruhe-Hafen sein, der Ort der Geborgenheit und bedingungslosen Annahme. Wenn es ein Ort der Respektlosigkeit, des Hasses oder des Missbrauchs ist, müssen wir auch hier die gleichen Grenzen setzen wie wir es bei anderen tun würden. Gerade bei der Familie ist um ein vielfaches ungesünder, als bei Fremden. Wenn ein Fremder dir sagt, dass du ein Aussätziger bist, hat das ganz bestimmt eine andere Wirkung auf dich, als wenn es dir deine Mutter sagt?  Erst wenn wir unsere eigene Würde wahren, öffnen wir den Raum, damit der andere es für sich selbst auch überprüfen kann. Theoretisch besteht ja auch die Möglichkeit, dass er es nun aus einer neuen Perspektive sehen kann und sein Verhalten überdenkt, dass genau daraus eine ganz neue und tiefere Verbindung zueinander entsteht, die nun endlich auf Augenhöhe  Wir tun es nicht nur für uns, sondern auch für die gesamte Ahnenlinie die nach uns kommt. Werden wir den Mut finden, eine Grenze zu setzen und notfalls zu gehen? Oder knicken wir ein, verbiegen uns und lassen es einfach über uns ergehen? Auch wenn es sich so anfühlen kann,als wenn dir der Boden unter den Füßen entgleitet: Wenn du in 5, 10, 15 Jahren daran zurückdenken wirst,wirst du stolz auf dich seinund dich gerade hinsetzen.

3 – Rebellion

Fast jeder von uns hat in seiner Teenager-Zeit rebelliert und die Autoritäten seines Lebens infrage gestellt. Das ist ein wichtiger Bestandteil unserer persönlichen Entwicklung. In dieser Zeit entwickeln wir unsere eigene Identität, unsere eigenen Vorstellungen von richtig und falsch und lösen uns aus dem Kokon der Familie. Und wer von uns durfte diese Rebellion wirklich ausleben? Bei vielen wurde dieser natürliche und wichtige Prozess des Aufbäumens unterdrückt. Auch in meinem Fall durfte diese Rebellion nicht zu Hause stattfinden. Ich lebte sie in der Schule aus. Sobald sich aber unsere Wohnungstür schloss, musste ich dieses Gefühl, diese Wut und Ohnmacht, in meinen inneren Keller sperren und „das Spiel“ spielen. Ich bin überzeugt, dass viele unserer heutigen Konflikte auf diese Ursache zurückzuführen sind – auf diese Erfahrungen in unserer Teenager-Zeit. Unser heutiges Gegenüber ist in dem Moment nicht mehr unser Partner oder unsere Freundin, sondern steht stellvertretend für unseren Vater oder unsere Mutter. „Damals konnte ich mich nicht wehren, damals durfte ich meine Stimme nicht erheben, dafür vernichte ich dich heute, bevor du zwei Silben sagen kannst.“ Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen kleinen Moment. Ich nenne diesen Moment: „Ich höre die Türen meines Waffenschrankes quietschen.“ Wir können uns darin trainieren, diesen Moment auszudehnen und nicht dem Reiz der Reaktion zu verfallen. Indem wir z. B. schlicht aus dem Raum gehen, kurz durchatmen und uns erinnern: Suche ich die Bestätigung von meinem Gegenüber – wie damals von meinen Eltern – oder stehe ich in mir und meiner Wahrheit? Wenn ich erwachsen in mir stehe, gibt es nichts, das ich verteidigen müsste. Rebellion muss heute nicht mehr unsere (innere) Zerstörung bedeuten. Heute kann sie unser ureigener Weg werden, um in Gelassenheit und Ruhe zu dem stehen zu können, wer wir sind oder woran wir glauben. Keine Rechtfertigungen, kein Kampf, keine Erklärungen. Wir sind erwachsen. Wer es verstehen möchte, wird es ohne Worte verstehen. Wer es nicht verstehen möchte, wird es auch mit der besten Verteidigung abwerten. Hinter jedem „Nein“ kann sich ein noch größeres „Ja“ zu mir selbst und zu meinem Leben entwickeln. Wenn ich weiß, wie ich es nicht haben will, kann ich für das einstehen, was ich mir wünsche. Erlaubst du dir deine innere Rebellion, die dich zwar ein Stück weit von den anderen trennt, dir damit aber auch deine ureigene Identität schenkt? Sie gibt dir diesen besonderen Charakterzug, den nur du so hast, wie du ihn hast. Unsere Rebellion ist das, was uns einzigartig macht. Bewahren wir sie uns.

2 – Gutmensch

Weiße und schwarze Maske

Ich kann mich noch sehr gut an diesen Tag aus der zweiten Geschichte meines Buches erinnern, ebenso daran, wie sehr meine Mutter geweint hat, als sie mich an der Schule loslassen musste. Es war, als würde ich zu einer Elite gehören. Wir waren die Auserwählten. Wir hatten den Plan, die Wahrheit und das einzig wahre Verständnis von Gut und Böse. Natürlich waren wir die Guten. Die anderen waren die Bösen. Doch auch wir hatten es uns nicht einfach so erworben. Es gab einen klaren Katalog mit Vorgaben, Regeln und Vorschriften, die es zu beachten galt, um dieses Abzeichen zu verdienen. Das erinnert mich stark an viele weitere Systeme in uns und in dieser Welt. In unserer Gesellschaft gibt es mittlerweile auch einen sehr langen Katalog ausgesprochener und unausgesprochener Regeln, die es zu beachten gilt, um sich auf die Seite der „Guten” zu befinden. Zugehörigkeit = Überleben. Wahrscheinlich gehört es schlicht zum menschlichen Trieb, da es ein Grundbedürfnis direkt anspricht. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Wurzeln, Heimat und Geborgenheit. In einem Rudel bin ich stark – da bin ich sicher. Wenn ich mich um andere kümmere, kümmern sie sich um mich.  Ein Relikt aus alten Zeiten, in denen es ganz sicherlich so war. Damals waren die Menschen noch selbst für ihren Schutz verantwortlich und organisierten sich in Stämmen, die sich gegenseitig versorgten und beschützten. Religiöse Prägungen Während wir uns heute stückweise wieder einem ideologiefreien Glauben annähern, tragen wir gleichzeitig die ganze Radikalität des Glaubens in unseren Genen, die uns von unseren Ahnen vererbt wurde. „Nur die Guten kommen in den Himmel, der Rest kommt in die Hölle.“ Liegt hier der eigentliche Grund verborgen, warum wir den Zwang verspüren, beweisen zu müssen, dass wir gut sind? Welchen Einfluss haben die größten Kirchen auf diesen inneren Richter, der in unserem Herzen lebt? Wie viel Gewicht kann ein schlechtes Gewissen bekommen? An dieser Stelle lassen sich Menschen besonders leicht manipulieren und lenken, denn der Wunsch, gut zu sein, ist so tief in uns verankert. Wenn du genau hinschaust, wirst du feststellen, dass oft genau dieser Hebel genutzt wird, um Menschen zu bestimmten Handlungen oder Denkweisen zu führen. „Du willst doch ein guter Mensch sein, oder nicht?“ — Darüber könnte ich ganze Bücher schreiben, denn es gibt so viele weitere Ebenen, die hier den Rahmen sprengen würden. Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass es weltweit keine Norm für Gut oder Böse gibt. Es sind Variablen. Je nach Kultur können sie vollkommen unterschiedlich bewertet werden. Was in Deutschland als gut bewertet wird, gilt in anderen Ländern als schlecht – und umgekehrt. Wenn es also Variablen sind, die keiner Norm unterliegen, warum sollten wir sie dann als DIE Wahrheit verteidigen? Es ist lediglich eine von vielen Wahrheiten. Wie reich wird unsere Welt werden, wenn wir beginnen diese Weltsichten miteinander zu verbinden, statt sie zu bekriegen. Die Art und Weise, wie die Zeugen Jehovas ihre Weltsicht verteidigen, mag für viele befremdlich wirken. Doch unterscheiden sie sich so sehr von den üblichen engen Strukturen unserer Gesellschaft? Ihre Weltsicht ist eine von vielen. Für sie mag sie stimmen und ihr Leben bereichern, für andere nicht. So what?

1 – People Pleasing

Ein Mädchen steht mit verschränkten Armen in der Mitte und man sieht zwei Menschen-Arme die auf sie einreden.

Ein kleines Kind zweifelt nicht an seiner Umwelt, sondern immer an sich selbst. „Das, was ich denke und fühle, ist falsch“, in meinem Fall sogar Sünde. „Du möchtest doch kein böses oder schlechtes Kind sein, oder?” Aus dieser Zeit sind Wahrheiten über uns entstanden, die oft bis heute Bestand haben. Es sind Anteile unseres Ur-Wesens, die wir aus Scham und Schuld für immer in den Keller gesperrt haben. Wir haben uns innerlich beschnitten (beschneiden lassen), aus diesem damals notwendigen Überlebensinstinkt heraus. Ein kleines Kind, das nicht Teil des Rudels ist, stirbt. Das wussten wir. Instinktiv. Wir wussten, dass wir unsere Eltern und unsere Familie brauchen, um zu überleben. Wenn du 20 Jahre lang jeden Tag einen Handschuh an der rechten Hand trägst, wirst du irgendwann nicht mehr mitbekommen, dass du ihn trägst. Es wird zur Normalität. Wenn du dich irgendwann entscheidest, ihn abzulegen, wird dir etwas fehlen. Du wirst dich vielleicht nackt oder unvollständig fühlen. Du hast ihn so lange getragen, dass er zu deiner zweiten Haut geworden ist. Ähnlich war es bei mir mit dem Wunsch, gefallen zu wollen. Ich saß schon lange nicht mehr mit meinem Vater und meiner Mutter am Frühstückstisch. Ich war inzwischen über 40 Jahre alt. Ich dürfte keine Angst mehr haben, zu sterben, wenn ich aus dem Rudel falle. Ich bin nicht mehr von meinem Gegenüber abhängig, um zu überleben, und doch spulte ich automatisiert das gleiche Schema ab, genauso wie damals, als ich an diesem Tisch saß. Ich sprach nicht meine Wahrheit, sondern sperrte meine Gedanken und Emotionen in den Keller. Ich zeigte nur das, was mich nicht in Schwierigkeiten bringt. So wurde ich zum People Pleaser. Unsere Welt ist voller People Pleaser. Überspitzt gesagt, leben wir in einer absoluten Fake-Welt. Wir zeigen nur das, was uns nicht in Schwierigkeiten bringt. Es ist eher selten, jemanden zu treffen, der kein People Pleaser ist. Andererseits sind wir heute wohl immer noch der Meinung, dass uns das schützt. Vor Konflikten, Bloßstellungen, Scham und Fehlern. Wir machen uns damit nicht angreifbar und leben unser ruhiges und entspanntes Leben, so wie wir es bisher kannten. Wir wollen nicht anecken, niemanden verletzen oder wütend auf uns machen. Diese Geschichten habe ich mir auch erzählt. Doch bei mir war es zumindest so, dass ich in der Tiefe vor allem eine verdammte Angst vor Gegenangriffen und der möglichen Ablehnung hatte. Ich hatte Angst vor Trennung. Tatsächlich ist Trennung ja eher in Mode gekommen, als in dem Feuer einer Beziehung stehen zu bleiben. In diesen Fake-Beziehungen findet sich jedoch nicht die Wahrheit, die Tiefe und die Verbindung, die wirklich berühren und heilen. Wir halten uns damit gemeinsam in einer Scheinwelt gefangen, in der jeder nur „versagen” kann, weil er dem Bild des perfekten Menschen niemals entsprechen wird. Dieses Kapitel ist eine Einladung, uns an den Ursprung unseres People-Pleasing zu erinnern und mit dem jüngeren Anteil in uns in Kontakt zu kommen, der es unter den damaligen Umständen gut für uns geregelt hat – jetzt sind wir erwachsen und können wieder selbst Verantwortung übernehmen. Was genau haben wir damals von uns abgeschnitten? Unsere Lebendigkeit? Unsere Eigensinnigkeit? Unseren Sonnenschein? … Ist jetzt die Zeit, es sich selbst zu erlauben, es aus dem Keller wieder an die Oberfläche unseres Lebens zu holen? Welche Entscheidung treffen wir heute? Herzensgruß zu dir,deine Johanna Pardo Hier geht es zur ganzen Geschichte am Küchentisch: Buch vorbestellen